Knappenschlag im Mittelalter

Auf dem Weg zum Stadion musste Aviel durch den großen Park laufen. Die Stadtverwaltung hatte zu wenig Geld für eine ordentliche Pflege des Geländes, wodurch es viele verwilderte Bereiche gab. Aviel kannte jeden Winkel des Parks, denn für die Kinder war es eher ein Vorteil, dass alles wild wucherte. Früher war hier ihr Zauberwald gewesen, also für seinen großen Bruder und ihn. Jetzt war es ein geheimnisvolles Feenreich für Neeth, die mit ihren fünf Jahren eine wahrlich blühende Fantasie hatte. Aviel spielte wesentlich lieber mit ihr hier im Park, als zu Hause mit der ganzen Armee an Feen und Einhörnern, die sie in allen Größen und Farben besaß. Aiden war bereits 15 Jahre alt. Seit einem halben Jahr war er in sein neues Zimmer im Keller gezogen und seitdem hatte auch Aviel sein eigenes Reich. Doch oft genug vermisste er die Geräusche seines Bruders in der Nacht. Die beiden waren wie Pech und Schwefel, doch seit Aiden seine neue Freundin Nadine hatte, wollte er sich ungestört mit ihr in seinem Zimmer aufhalten können. Die Räume im Haus waren neu aufgeteilt worden. Das große Zimmer von Aviel und Aiden grenzte nun an Neeths Zimmer und das des Babys, auch wenn dieses erst in einem halben Jahr geboren werden würde. Aviel hatte dafür ihr Zimmer bekommen und Aiden Papas ehemaliges Büro im Keller übernommen. Er hatte es ohnehin nie wirklich genutzt, denn entweder war er unterwegs oder er arbeitete in seinem Büro im Museum.
Jetzt, Anfang August, war der Park besonders schön. Die Bäume spendeten ausreichend Schatten und boten viele Möglichkeiten, um sich zwischen den Büschen zu verstecken. Manche Arten begannen schon, sich leicht zu färben und in wenigen Wochen würde alles in den herrlichsten Farben leuchten. Dann hatte der Park wirklich etwas von Feenreich und Zauberwald. Aviel würde mit seinen Geschwistern Drachen basteln und steigen lassen. Es war egal, ob die gekauften Lenkdrachen besser flogen. Das Gefühl, einen selbstgebauten Drachen steigen zu lassen, war etwas Besonderes. Aviel blickte in den Himmel und entdeckte etwas, das ihn innehalten ließ. Es war eine einzelne Seifenblase, die schillernd durch die Luft schwebte. Aviel schaute sich um, aber er konnte keine weiteren Blasen entdecken. Er beobachtete diese eine Blase. Sie hielt ungewöhnlich lange und selbst am Schluss, bevor sie zerplatzte, verlor sie ihre Farbenpracht nicht. Erst jetzt, als die erste Blase verschwunden war, entdeckte er eine zweite. Sie schien vom Boden aufzusteigen, bis sie auf Höhe seines Gesichts schwebte und zersprang. Aviel sah sich verwirrt um. Er war alleine im Park. Nirgends war ein Kind zu sehen. Zudem hätte es auf dem Boden liegen und pusten müssen. Langsam ging Aviel auf das Gebüsch zu, vor dem nun eine weitere Seifenblase schillernd durch die Luft flog. Er stellte seine Tasche ab und ging auf die Knie. Nun stiegen die Blasen schneller auf. Nacheinander kamen sie zwischen den Ästen hervor. Eine von ihnen schwebte so zielgerichtet auf ihn zu, dass er den Kopf wegziehen musste, damit sie ihm nicht an der Nasenspitze zerplatzte. Aviel verlor den Halt und saß nun auf dem Hintern. Aus dem Grün kam ein Streifenhörnchen heraus. Er hatte hier noch nie ein wildes Streifen-hörnchen gesehen und erst recht keines, das auf den Hinterbeinen lief und in den Vorderpfoten eine kleine, hölzerne Flasche hielt. Aber genau das sah er jetzt, egal, wie oft er blinzelte, um den Blick wieder klar und streifenhörnchenfrei zu bekommen. Das kleine Tierchen kam zielstrebig auf ihn zu und Aviel wusste nicht, ob er die Hand nach ihm ausstrecken und es streicheln oder lieber flüchten sollte. Plötzlich blieb es stehen und grinste Aviel regelrecht an. Es führte den Stab mit dem kleinen Holzring zum Mund und pustete. Immer weiter blies es Luft hindurch und die Seifenblase wurde größer und größer. Nun rückte Aviel doch zurück, aber nicht schnell genug. Die Seifenblase traf ihn, doch sie zerplatzte nicht. Sie hüllte ihn ein und Aviel sah das Schillern in allen Regenbogenfarben nun aus dem Inneren der Blase. Es roch nicht nach Seife, sondern nach frischgeschnittenem Gras und Morgentau. Auf seiner Haut spürte er eine kühle Feuchtigkeit, als würde er in einem Nebel sitzen, nur dass dieser Nebel langsam dichter wurde und in allen Farben schimmerte. Es war wunderschön!
Aviel sah nichts mehr vom Park. Um ihn herum begann der bunte Nebel zu wirbeln, und ihm wurde schwindelig. Er wollte die Augen schließen, doch das änderte nichts. Alles um ihn herum drehte sich und auch er selbst schien plötzlich zu schweben und zu kreisen. Immer und immer schneller, bis mit einem Mal die Blase platzte. Das Streifenhörnchen war wie vom Erdboden verschluckt und die Seifenblasen auch. Dummerweise war auch der gesamte Park verschwunden. Er sah sich um und erkannte dicke, steinerne Wände, ein Fenster mit schweren Vorhängen und einen Kamin, in dem ein wärmendes Feuer flackerte. Er saß auf einem riesigen Bett in einem ihm fremden Zimmer. Neben ihm auf einem hölzernen Schemel stand ein Tablett mit einer Kanne und einer Schüssel. Er stellte den Krug und die Schüssel beiseite und griff nach dem Tablett. Mit dem Ärmel seines beigen Hemdes rieb er über die Oberfläche, bis diese glänzte und er sie als Spiegel benutzen konnte. Das Gesicht, welches ihm entgegenblickte, war ihm unbekannt!