Es war einmal eine kleine Fee, eine Lebensfee. Sie wohnte nicht in den Bächen und See, sie hatte kein Zuhause in den Wäldern oder Bergen und sie lebte nicht auf den Wiesen. Nein, diese besondere Fee lebte in einem Haus. In einem sehr großen Haus und wirklich besonders fühlte sie sich eigentlich nicht.
Alle paar Monate traf sie sich mit den anderen Feen zum Wechsel der Jahreszeiten, denn diese waren für die Lebensfeen sehr wichtig. Es gab Zeiten, in denen sehr viel neues Leben entstand und es gab Zeiten, in denen das Leben wieder verging.
Meistens saß die kleine Fee am Rand und hörte einfach den Geschichten zu, die die anderen Feen zu erzählen hatten.
Eines Tages fragte jedoch eine Fee aus den Flüssen: „Sag, wo lebst du nochmal? Du erzählst nie etwas, da habe ich es vergessen.“ Die kleine Fee antwortete zaghaft: „In einem großen Haus in der Stadt, hoch oben in der fünften Etage.“ Die Flussfee rümpfte die Nase. „In einem Haus? Was macht eine Lebensfee in einem Haus? Das passt doch gar nicht!“ Nun kamen auch die anderen Feen näher, um dem Gespräch zu lauschen.
„Ich finde das passt sehr gut, denn es ist kein gewöhnliches Haus. Es ist ein Krankenhaus“, verteidigte sich die kleine Fee leise.
„Pah, ein Krankenhaus! Das klingt doch schon furchtbar. Was willst du da? Das Leben ist hier draußen! Die Blumen und die Käfer“, rief eine Wiesenfee.
„Die Frösche und Fische“, ergänzte eine Wasserfee und plötzlich riefen alle Feen durcheinander und zählten die Lebewesen auf, um die sie sich kümmerten. Die kleine Fee sagte nichts, sondern wartete, bis alle wieder verstummt waren. „Also, was gibt es dort für eine Lebensfee zu tun? In diesem Krankenhaus?“, fragte die Flussfee.
„Es stimmt schon, das Wort Krankenhaus ist eigentlich kein guter Name, denn es ist in Wirklichkeit ein Lebenshaus und in der fünften Etage spürt man das am besten. Jeden Tag kommen Babys auf die Welt, egal zu welcher Jahreszeit. Und immer wieder gibt es kleine Seelen, die nicht bleiben können. Das Leben beginnt, es wird gehegt und gepflegt, wo auch immer das nötig ist und es vergeht wieder. Der ganze Lebenskreis, an einem Ort und an jedem Tag. Das macht dieses Haus so besonders“, erklärte die kleine Fee.
„Und du kümmerst dich alleine um all diese Leben?“, wollte eine Waldfee skeptisch wissen. Die kleine Fee schüttelte ihren Kopf.
„Nein, natürlich nicht. Das machen die Menschen, die in dem Haus arbeiten. Pflegekräfte, Ärzte, Hebammen, Reinigungskräfte, ehrenamtliche Helfer und noch mehr. Es gibt so viele Menschen dort, dass ich nicht einmal alle Namen weiß. Aber sie alle sind wichtig und tun ihren Teil. Das zu erleben, ist jeden Tag etwas ganz Wertvolles.“
Die anderen Feen mussten zugeben, dass da wirklich was dran war. Dennoch wollte die Flussfee noch eine Sache wissen.
„Wenn die Menschen sich doch um all das kümmern, was tust du dann noch? Wozu brauchen sie eine Lebensfee wie dich?“  
Die kleine Fee überlegte lange, bevor sie antwortete: „Ich versuche, allen in diesem Haus zu geben, was sie brauchen: Hoffnung, Geduld, Mitgefühl und starke Nerven für jeden, der dort tagtäglich seiner Berufung nachgeht. Freude und Glück für jedes neue Leben. Ruhe und Kraft, um in Krankheit zu genesen. Frieden für jedes Leben, das vergeht. Das ist mein Beitrag und den leiste ich sehr gerne!“
Die kleine Fee atmete tief durch und erklärte mit stolzer Stimme: “Mein Haus ist ein gutes Haus, ein Lebenshaus. Der ganze Lebenskreis an einem Ort und an jedem Tag.“  

Danke, für eueren immerwährenden Einsatz!

Sieglar, 13.11.2021