Gegenwart

»Jessica, beeil dich bitte! Wir müssen in zehn Minuten los, sonst kommen wir zu spät.«
»Ja, Mama, ich bin gleich soweit!« Manchmal treibt mich die Frau in den Wahnsinn! Und wenn das passiert, klingt meine Stimme ätzend schrill wie soeben. Keine Ahnung, warum meiner Mutter das gefällt oder wo sie darin einen glockenhellen Klang hören möchte, wie sie es einmal nannte. Ich mag tiefe Stimmen viel lieber, sie wirken auf mich geheimnisvoll. Wenn ich mir Mühe gebe, klinge ich ein bisschen wie die Sängerin Cher. Mit ihrer Musik kann ich nicht viel anfangen, ihre Stimme aber finde ich toll. Sobald ich unter Stress gerate, kommt jedoch bedauerlicherweise meine eigene Stimme wieder durch. Das ist die Crux an der Sache: Gestresst bin ich bei nahezu jedem Gespräch mit meiner Mutter, weshalb ich solche Situationen vermeide, wo es geht.
Dummerweise ist das bei Weitem nicht der einzige Punkt, in dem wir unterschiedlicher Meinung sind. Meine Klamotten sind ein Thema, über das sie sich endlos aufregen kann. Wie hatte sie es ausgedrückt? Ach ja: »Jessica, kannst du wenigstens zu diesem Termin etwas anziehen, was dem Umstand angemessen ist?« Was für eine Formulierung! Passender wäre die Frage: Was ist angemessen für eine Eilvorladung bei der Polizei?
Meine einzige Freundin wird vermisst, alleine bei dem Gedanken könnte ich heulen. Schwarze Klamotten sind da durchaus angebracht, finde ich. Was anderes gibt mein Kleiderschrank eh nicht her. Ich liebe Rüschen und feine Spitze, und sollte ich eines Tages heiraten, wird es in einem schwarzen Tüllkleid mit blutroten Akzenten sein, wie das, was ich in der letzten Orkus!-Ausgabe sah. Für heute sind es der kurze Faltenrock sowie das schlichte Top geworden, was meine Mutter hoffentlich zufriedenstellen wird.
Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich den Rock öfter tragen sollte, denn meine Beine wirken darin endlos lang, wodurch man weniger auf den rundlichen Bauch achtet. Nobody is perfect! Wenn das stimmt, warum werden wir in allen Medien mit Idealen bombardiert, die es zu erreichen gilt? Ich will ja gar nicht perfekt sein. Wenn ich den Bauch ordentlich einziehe, habe ich weibliche Kurven, die mir gut gefallen. Sobald ich aber die Spannung löse, ist die kleine Wampe höhnisch lachend zurück. Kaschieren lautet das Zauberwort, den Fokus umlenken auf die Körperstellen, mit denen ich im Reinen bin: mit meinen Beinen oder meinem Gesicht. Mit meinem Make-up bin ich heute allerdings überhaupt nicht zufrieden. Prima, eine Sache, in der Mama und ich uns einig sein werden. Ich liebe helle Haut, die wie feines Porzellan wirkt, doch das, was ich im Spiegel sehe, erinnert mich eher an fades Papier, woran auch der zarte Hauch von Rouge nichts ändert.
Ich setze mich an meinen Schminktisch und betrachte mich einige Augenblicke kritisch im Spiegel. Für einen Moment stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn Susanne neben mir säße. Sie würde ihren Arm um mich legen und mir sagen, dass alles gut ist. Allerdings ist sie nicht hier, und es ist überhaupt nichts gut. Nur meine eigenen traurigen Augen sind übergroß im Spiegel zu sehen, umrahmt von schwarzem Kajal. Es gibt alte Fotos, auf denen man einen leicht goldenen Schimmer in meiner grünen Iris erkennen kann. Heute leuchtet nichts, und ich würde mich am liebsten heulend unter der Decke verkriechen. Ich will nicht zu diesem Scheißtermin! Um den Moment des Aufbruchs weiter hinauszuzögern, studiere ich jeden Bereich meines Gesichts. Der kleine Stecker in der Nase wirkt matt. Es erinnert mich daran, dass ich mir endlich einen neuen besorgen sollte. Der Ring in der Unterlippe gefällt mir unglaublich gut, wenn er sich wie heute silbern auf dem bordeauxfarbenen Lippenstift absetzt. Gute Güte, hat das Ärger gegeben, als ich das Piercing habe stechen lassen! Meine Mutter weiß bis heute nicht, in welchem Laden das war. Sie hätte dem Typ die Hölle heißgemacht, wie der sich mit gefälschten Unterschriften von einem Teenager austricksen lassen konnte, von der Körperverletzung abgesehen. Dass sie mir im Kindergartenalter Ohrlöcher hat schießen lassen, weil das süß aussah, das war in Ordnung. Verstehe jemand die Logik der Erwachsenen!
Meine Augenbrauen sind perfekt gezupft, die Frisur sitzt bis auf eine kleine Strähne, die ich mit flinken Fingern feststecke. Wie gerne würde ich mir die Haare färben, aber auch da macht mir meine Mutter einen Strich durch die Rechnung. Braun ist ihrer Meinung nach dunkel genug. Sollte ich es wagen, mit schwarzen Haaren aufzutauchen, würde sie mir auf Lebzeiten das Taschengeld streichen. Ich traue es ihr zu und damit ist das Thema für beide Seiten durch.
»Fräulein, ich warte!«, tönt es aus dem Erdgeschoss. Oh, wie ich es hasse, wenn sie mich so nennt! Ich merke, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen, während ich mir auf die Zunge beiße, um jetzt nicht zu antworten. Stattdessen schnappe ich mir einen schwarzen Stiefel, anschließend suche ich den zweiten. Unter dem Bett werde ich fündig und schaffe es, ihn herauszufischen, ohne meine Frisur zu ruinieren. Beim Anziehen streiche ich sanft über den Stoff. Die Stiefel habe ich vor circa zwei Jahren gemeinsam mit Susanne gekauft. Sie haben die besten Zeiten definitiv hinter sich, was sie mit der Freundschaft gemein haben. Ich will jetzt nicht heulen und versuche, die drohenden Tränen wegzublinzeln. Tief durchatmen!
Meine Tasche hängt griffbereit über dem Stuhl, eilig stopfe ich alles hinein, was ich benötige: Handy, die blöde Vorladung, meinen Haustürschlüssel. Ein letzter Blick schweift durch mein Zimmer mit der Überlegung, ob ich was vergessen habe. Mir fällt auf die Schnelle nichts ein, daher eile ich die Treppe hinunter, wo meine Mutter genervt auf mich wartet. Na, dann mal los.