Wenn ich groß bin, werde ich ein Osterhase.
An einem sonnigen Frühlingstag machten Balduin, das Stachelschwein und Lilly, das Kaninchenkind, einen gemeinsamen Spaziergang. Sie wollten zur großen Wiese und sich dort an den ersten Blumen erfreuen. Als sie so durch das hellgrüne Gras schlenderten, entdeckte Lilly etwas. Es war ein Ei, aber kein gewöhnliches. Dieses Ei war bunt und die beiden Freunde konnten sich nicht erklären, wie es hier in ihre Wiese kam. Sie schauten sich genauer um, aber sie konnten weder andere Eier, noch das dazugehörige Nest entdecken. Der Vogel, der solche Eier legte, musste selber wohl sehr bunt sein.
Sie beschlossen, das Ei mitzunehmen und zurück zum Kaninchenbau zu gehen. Vielleicht würde Mama Kaninchen das Geheimnis lüften können. Als sie ankamen und ihren Fund präsentierten, staunten auch die anderen Kaninchenkinder nicht schlecht. Ein solches Ei hatte von ihnen noch niemand gesehen.
»Das muss wohl ein Osterei sein«, meinte die Kaninchenmama. Wirklich schlauer waren Balduin und Lilly nach dieser Antwort aber nicht.
»Und welcher Vogel legt Ostereier?«, wollte Lilly wissen.
»Das Ei ist von einem Huhn, aber die bunte Farbe hat es vom Osterhasen.« Nun waren alle Kaninchenkinder sehr neugierig geworden und wollten genauer wissen, wer denn der Osterhase sei. »Ich habe ihn noch nie gesehen, aber es heißt, er wäre ein ganz besonderer Hase. Er bemalt jedes Jahr zur gleichen Zeit die Eier der Hühner und versteckt sie überall. Wer eines dieser Eier findet, der darf es behalten und sich darüber freuen. Also habt ihr beiden großes Glück gehabt, denn soweit ich weiß, hat aus unserer Familie noch nie jemand ein solches Ei entdeckt. Das ist schon etwas ganz besonderes!«
Lilly platzte fast vor Stolz. Sie hatte ein Osterei gefunden! Eines, das vom Osterhasen persönlich bemalt und versteckt worden war. Balduin klopfte ihr anerkennend auf die Schulter und freute sich mit ihr. Den ganzen Tag saß Lilly bei ihrem Ei und bestaunte die leuchtenden Farben und die feinen Malereien. Als sie nachts im Bett lag, träumte sie sogar davon!
Am nächsten Morgen saß sie mit ihrer Familie beim Frühstück. Ihr war eine Idee gekommen, die sie unbedingt in die Tat umsetzen wollte. Also verkündete sie stolz: »Wenn ich groß bin, werde ich auch ein Osterhase!«
Für einen kurzen Moment herrschte eine Stille im Kaninchenbau, die wirklich selten vorkam. Doch dann prusteten ihre Geschwister plötzlich los und ein schallendes Gelächter hallte durch alle Röhren. Lilly verstand gar nicht, was es da zu lachen gab und fand es auch ziemlich gemein von ihren Geschwistern. Sie sah hilfesuchend zu ihrer Mutter, die sie aber auch nur ungläubig betrachtete. Trotzdem ließ Lilly nicht locker.
»Mama du sagst doch immer, dass wir alles werden können, wenn wir groß sind und alles erreichen können, wenn wir uns wirklich anstrengen!«
»Dann werde ich ein Schmetterling, wenn ich groß bin!«, kicherte Amalie.
»Und ich werde ein Fisch!«, gluckste Benjamin. Wieder lachten alle kleinen Kaninchenkinder. Lilly merkte, wie es in ihrem Bauch zu brodeln begann und klopfte wütend mit dem Fuß auf den Erdboden. Mit einem lauten: »Ihr seid so gemein!«, und einer kleinen Träne in den Augen, hoppelte sie, so schnell sie konnte aus dem Bau.
Lilly setzte sich auf einen Stein und starrte zum kleinen Bach. Sie grummelte leise vor sich hin, bis sie eine vertraute Stimme hörte.
»Lass dich nicht so dolle ärgern.« Es war ihr großer Bruder Felix, der sich neben sie setzte und tröstend eine Pfote um sie legte. Lilly schniefte ein paar Mal und schaute zu Felix.
»Warum kann ich kein Osterhase werden?«, fragte sie traurig. Jetzt kratzte sich ihr Bruder verlegen am Ohr und überlegte, wie er ihr am besten antworten sollte.
»Na ja, weil du kein Hase, sondern ein Kaninchen bist«, erklärte er behutsam.
»Aber ich habe mal einen Hasen auf dem Feld gesehen. So wirklich anders sah der gar nicht aus!«, maulte Lilly. Nun musste Felix lachen.
»Dann hast du ihn aber nur aus weiter Ferne gesehen. Zwischen uns und den Hasen gibt es einige Unterschiede.«
»Welche denn?«, wollte sie jetzt genauer wissen. Ihr großer Bruder wusste ganz schön viel und wenn ihr jemand den Unterschied erklären konnte, dann er.
»Nun, da wäre als Erstes, ähm.« Felix räusperte sich, dann wurden seine Augen groß und begannen zu leuchten. »Weißt du was? Ich erkläre es dir nicht nur, wir finden es gemeinsam raus. Komm! Lass uns gehen.«
Mit einem Mal war Lillys Traurigkeit verschwunden und die Neugier packte sie. Eine Entdeckungsreise mit Felix? Das würde ein spannendes Abenteuer werden! »Wo gehen wir denn hin?«, erkundigte sie sich neugierig, aber Felix meinte nur: »Zum Feld, denn da findet man die Hasen oft. Deshalb heißen sie auch Feldhasen.«
»Feldhase«, murmelte Lilly, denn dieses Wort hatte sie noch nie gehört. Sie hoppelten eine Weile, bis sie dorthin kamen, wo das große Feld an die Wiese grenzte. Lilly konnte jedoch keinen Hasen entdecken. Plötzlich blieb Felix stehen und meinte: »Wir sind da! Das ist das Zuhause eines Feldhasen.«
Lilly sah sich um und rümpfte die Nase. Erlaubte sich Felix einen Scherz mit ihr? Sie sah weit und breit kein einziges Loch im Boden, das zu einem Bau führen konnte. Das Einzige, was sie sah, war eine runde Kuhle, in der das Gras plattgetreten war. Verwundert drehte sie den Kopf zu ihrem Bruder und schaute ihn fragend an. Doch der grinste und deutete tatsächlich auf die Mulde vor ihnen und erklärte es ihr. »Das, liebe Lilly, ist eine Sasse. Hier versteckt sich der Hase und hier kommen auch die kleinen Hasenbabys zur Welt. Hasen leben nicht wie wir unter der Erde, sondern in solchen Grasmulden und das übers ganze Jahr hinweg.“
Das kleine Kaninchenkind war fassungslos. »Aber so haben die Hasenbabys doch gar keinen Schutz! Und es muss ihnen doch ganz kalt sein. Noch kein Fell am Körper und dann hier draußen? Das ist ja furchtbar!«
Felix schüttelte nur den Kopf und meinte: »Aber Hasenbabys kommen gar nicht nackt zur Welt. Sie haben von Anfang an ein dichtes Fell und offene Augen. Wenn sie sich flach auf den Boden drücken, sind sie für Feinde fast nicht zu sehen. Und falls doch, dann müssen sie sich schnell verstecken oder haben Pech gehabt.« Bei den letzten Worten zuckte Felix betroffen mit den Schultern. Lilly konnte sich das Ganze überhaupt nicht vorstellen. Ihre Mutter hatte vor wenigen Tagen neue Kaninchenbabys bekommen und Lilly hatte die kleinen gesehen. Besonders süß waren sie nicht gewesen, wie sie mit geschlossenen Augen, nackt und ein wenig faltig durcheinander gewürfelt dalagen. Inzwischen konnte man ein feines Fell erahnen und die ersten zwei hatte schon die Augen geöffnet. Dass Hasenbabys schon fertige Hasen waren, nur viel kleiner, konnte sie sich nicht so recht vorstellen.
»Aber wo ist denn der Hase jetzt?«, wollte sie gerne wissen.
»Wir werden wohl noch ein wenig weiter suchen müssen«, antwortete Felix. Gemeinsam hoppelten sie ein bisschen weiter rauf aufs Feld und suchten. Plötzlich deutete Felix auf zwei langgezogene Ohren, die denen der Kaninchen ähnelten. Je näher sie kamen, umso deutlicher konnte Lilly den Hasen erkennen. Er kauerte auf dem Boden und hatte seine Ohren leicht angelegt. Aber was für Löffel er hatte! Viel länger und spitzer als die von Lilly und Felix. Außerdem hatten sie am Ende eine dunkle, fast schon schwarze Färbung. Auch das Fell hatte, jetzt wo sie ihn besser sehen konnte, eine eher bräunliche Farbe und war nicht so erdgrau wie ihr eigenes Fell.
»Meinst du, das ist der Osterhase? Ich sehe keine Farben oder bunten Eier«, flüsterte Lilly. Sie wollte den Hasen auf gar keinen Fall aufschrecken und vertreiben.
»Es ist auf jeden Fall ein Hase, aber ob er der Osterhase ist, das weiß ich nicht.«
Lilly dachte einen Moment nach. »Gibt es denn nur einen Osterhasen? Oder gibt vielleicht sogar mehrere? Die Wiese, auf der wir das Ei gefunden haben, ist groß und es gibt bestimmt noch viele andere Wiesen. Und was macht er, wenn er alt wird? Schafft das denn ein Hase ganz alleine? Vielleicht bringt er das Eierbemalen ja allen Hasen in seiner Sippe bei und es gibt eine ganze Menge an Osterhasen! Eine riesige Osterhasenfamilie!«
Jetzt musste Felix lachen. »Hasen leben nicht wie wir in großen Sippen. Sie sind eher Einzelgänger. Selbst um die Babys kümmern sie sich nicht den ganzen Tag. Die sind meistens alleine in der Sasse und die Häsin kommt nur, um sie zu säugen. Sobald die Kleinen groß genug sind, um sich ihr eigenes Futter zu suchen, verlassen sie ihre Sasse und ziehen weiter.«
Das kleine Kaninchenkind dachte über die Worte ihres Bruders nach. Sie war heute Morgen wirklich wütend auf ihre Geschwister gewesen und hätte sie am Liebsten ins letzte Erdloch gewünscht. Bei dem Gedanken ohne ihre Familie leben zu müssen, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Das würde ja auch bedeuten, dass kein Felix an ihrer Seite wäre, um ihr etwas zu erklären und keine Geschwister, mit denen sie spielen konnte. Und auf ihre Eltern und Onkel und Tanten wollte sie auch nicht verzichten.
»Also, wenn ich groß bin und ein Osterhase werde, dann bringe ich euch allen bei, wie man Eier bemalt und dann verstecken wir sie nicht nur auf der Wiese, sondern auch im Wald und am Bach. Dann haben auch Balduin, Biber Carlo und die anderen Tiere Glück und finden eins. Wäre das nicht toll?«
Ihr großer Bruder seufzte und rollte mit den Augen. »Komm, wir gehen noch ein bisschen näher ran.«
Leise hoppelten sie auf den Feldhasen zu und je näher sie kamen, umso größer wurde er. Dieser Hase musste mindestens doppelt so groß sein wie Felix, vielleicht sogar noch größer! Lilly wurde es ein bisschen mulmig zumute. Er hatte sie inzwischen auch bemerkt, stellte die Ohren auf und blickte in ihre Richtung. Jetzt konnten die beiden Kaninchen wirklich sehen, wie groß die Löffel des Hasen waren. Was Lilly aber besonders einschüchterte, waren seine Augen. Er hatte keine braunen süßen Knopfaugen, wie sie selbst. Die Augen, die sie nun musterten, hatten einen hellbraunen Kranz und in der Mitte die schwarze Pupille. Sie stachen deutlich in dem schmalen Gesicht mit struppig braunem Fell hervor. Felix hoppelte noch ein bisschen näher und Lilly folgte ihm zaghaft. Der Hase erhob sich und stand nun in voller Größe da.
»Felix!«, flüsterte Lilly, »Sieh dir die langen Beine an!« Sie blickte immer wieder zwischen ihren eigenen und denen des Hasen hin und her. Natürlich hatte er längere Beine, er war ja auch deutlich größer, aber so lang? Wofür?
»Hasen können sehr schnell rennen«, erklärte Felix. Diese Antwort reichte Lilly jedoch nicht aus.
»Das können wir auch«, maulte sie.
»Ja, aber wir müssen nur zum nächsten Loch flitzen und sind dann in unserem Bau in Sicherheit. Der Hase hat aber nur seine ungeschützte Sasse. Er muss also deutlich schneller und länger rennen können als wir, wenn er seinen Feinden entgehen möchte.«
Als hätte er sie gehört, drehte sich der Feldhase um und sprang in wilden Sätzen über das Feld. Mal nach links und dann nach rechts, man konnte nie wissen, wohin der nächste Sprung ging! Die beiden Kaninchen sahen ihm bewundernd nach.
»Das nennt man Haken schlagen und kaum ein Tier kann das besser als der Hase«, verkündete Felix und in seiner Stimme klang eine Bewunderung mit, die Lilly nur teilen konnte. Nach wenigen Augenblicken war der Hase verschwunden und so sehr sich Lilly auch anstrengte, sie konnte ihn nicht mehr entdecken. Nun verstand sie, warum der Hase keinen Bau zum Verstecken brauchte. Welches Tier konnte ihn denn so schon fangen? Vielleicht konnte deshalb niemand den Osterhasen sehen, wenn er seine Eier verteilte. Er war einfach zu schnell mal hier und mal dort, um bemerkt zu werden.
Jetzt, da der Feldhase nicht mehr zu sehen war, beschlossen Lilly und Felix wieder zurück nach Hause zu gehen. Am Nachmittag spielten die Kaninchenkinder mit ihren Freunden am kleinen Bach verstecken. Nur Lilly saß am Ufer, schaute auf das Wasser und dachte über alles nach, was Felix ihr erklärt und was sie gemeinsam gesehen hatten. Auf den ersten Blick und aus der Ferne betrachtet, war ihr der Hase so ähnlich vorgekommen. Aber jetzt wusste sie, wie verschieden sie doch waren und dass sie nie ein Osterhase werden konnte. Genauso wenig wie ein Fisch oder ein Schmetterling.
Balduin, das Stachelschwein, setzte sich neben sie und fragte: »Was ist los mit dir? Hat das Abenteuer mit Felix keinen Spaß gemacht?« Natürlich hatten ihm die Kaninchen von Lillys Ziel, ein Osterhase zu werden, erzählt.
»Doch, natürlich. Aber ich wollte so gerne ein Osterhase werden, Eier bemalen und verstecken, damit ihr auch das Glück habt, eins zu finden«, seufzte sie traurig.
Balduin legte tröstend einen Arm um sie und meinte: »Ich weiß noch, wie ich unbedingt schwimmen lernen wollte. Ich konnte aber weder schwimmen wie eine Ente, noch wie ein Frosch, ein Fisch oder ein Biber. Da hat mir ein sehr kluges Kaninchenkind vorgeschlagen, es auf meine Weise zu versuchen. Und das war eine sehr gute Idee, denn sie hat funktioniert.« Während er das sagte, drehte er einen kleinen Stein in der Hand, den der Bach rundgeschliffen hatte und reichte ihn seiner kleinen Freundin. »Vielleicht musst du gar kein Hase sein und vielleicht müssen es auch keine Eier sein.«
Lilly nahm den Stein in die Pfoten und staunte. Balduin hatte recht! Sie blickte in sein lächelndes Gesicht und hatte plötzlich eine wunderbare Idee.
»Das ist es! Ich werde ganz viele schöne Kieselsteine sammeln und anmalen. Und einmal im Jahr, werde ich sie überall verstecken und alle können das Glück haben, einen zu finden und sich darüber zu freuen.« Lilly strahlte über das ganze Gesicht.
»Das klingt nach einer richtig tollen Idee«, stimmte Balduin ihr zu.
Lilly drückte Balduin ganz dolle und sagte: »Mit diesem Stein fange ich an und wenn ich groß bin, werde ich ein Osterkaninchen!«