Jeder kann musizieren

Es war ein wunderschöner Sommerabend und Balduin machte einen kleinen Spaziergang. Viele Tiere waren schon zur Ruhe gegangen und so hörte man die wunderschöne Stimme der Nachtigall. Balduin war wie verzaubert und blieb einen Moment stehen. Fast alle Vögel können singen, aber die Nachtigall hatte eine ganz besondere Stimme. Balduin liebte Musik, aber singen konnte er nicht, was er sehr schade fand. Er schlenderte gemütlich weiter durch den Wald und lauschte. Am Abend klang der Wald ganz anders als am Tag.

Er kam am kleinen Tümpel vorbei und hörte dort die Frösche quaken. Jeder hatte einen anderen Ton und gemeinsam klangen sie wie ein großer Chor. Viele kleine grüne Frösche saßen am Ufer und auf den großen Seerosenblättern. Ihre nasse Haut glänzte in der Abendsonne. Balduin sah zu, wie die Frösche ihre Backen mit Luft füllten. Ob diese feinen Blasen nicht platzen könnten? Dann ließen die Frösche die Luft mit einem ganz lauten »Quaaak« wieder raus. Balduin war fasziniert von dem Anblick. Dass kleine Tiere so laut singen konnten, hätte er nicht gedacht. Er selbst war doch viel größer, aber solche Töne bekam er nicht hin.

Als er weiterging, hörte er in der Nähe plötzlich ein sehr lautes Röhren. Balduin folgte dem Geräusch und wollte unbedingt wissen, von welchem Tier es stammte. Vorsichtig schlich er in die Richtung, aus der die tiefen Töne kamen. Als er an der kleinen Lichtung ankam, sah er einen großen Hirsch. Es war ein sehr stattliches Tier mit einem riesigen Geweih auf dem Kopf. Balduin wusste, wie kompliziert das Leben mit Stacheln sein konnte, aber wie war das erst mit so viel Gewicht auf dem Kopf? Bekam der Hirsch keine Kopfschmerzen davon? Oder brüllte er genau deshalb so laut? Balduin versteckte sich hinter einem Busch mit weiß-grünen Blättern und roten Ästen. Von dort konnte er sich den Hirsch in Ruhe betrachten. Dieser wirkte stolz und edel und hielt den Kopf in der Höhe beim Rufen. Nach Schmerzen sah das nicht aus. Balduin war sehr beeindruckt, als der Hirsch ein weiteres Mal röhrte. Doch dann schien ihn der Hirsch bemerkt zu haben und schaute in seine Richtung. Nun senkte er den Kopf und drohte Balduin mit dem gewaltigen Geweih. Als er anfing, mit den Hufen zu scharren, beeilte sich Balduin, um weiterzukommen.

Für heute hatte er genug erlebt und wollte sich wieder auf den Heimweg machen. Allmählich wurde es dunkel und Balduin wollte rechtzeitig in seiner Höhle sein. In der Ferne hörte er weitere Tiere singen oder besser gesagt heulen. Es war ein Rudel Wölfe, deren Stimmen vom Wind weit getragen wurden. Nun lief Balduin noch ein bisschen schneller. Er wusste zwar, dass die Wölfe weit weg waren und er sich mit seinen Stacheln auch gut verteidigen konnte, sogar gegen Wölfe, aber das musste ja nicht sein. Erst als er zu Hause war, lauschte er in Ruhe. Das Heulen der Wölfe klang wunderschön und trotzdem auch ein bisschen unheimlich.

Balduin träumte in dieser Nacht von den Klängen, die er heute gehört hatte. Von der kleinen unscheinbaren Nachtigall mit ihrem lieblichen Zwitschern und von den noch kleineren Fröschen und dem lustigen Quaken. Er sah den Hirsch vor sich, wie er mit erhobenem Kopf in den Himmel röhrte und hörte das Heulen der Wölfe. Im Traum versuchte er mit ihnen zu singen, aber er konnte nicht. Ihm fehlte die passende Stimme dazu.

Als Balduin am nächsten Morgen zum kleinen Fluss ging, war er ein bisschen traurig. Er setzte sich ans Ufer und schaute Carlo dabei zu, wie er an seinem Biberbau arbeitete. Libellen schwebten durch die Luft und die Fische schwammen fröhlich durcheinander. Ein paar Enten glitten gemütlich über das Wasser und die Kaninchenkinder spielten am Ufer fangen. Balduin hatte keine Lust zu spielen. Er dachte darüber nach, wie schön es wäre, wenn Stachelschweine singen könnten. Balduin hörte ein schönes Geräusch in den Gräsern am Ufer und stand auf, um nachzuschauen, was das war.

Auf einem langen Grashalm saß eine männliche Grille. Sie rieb ihre Flügel kräftig aneinander, um einen Ton zu erzeugen. Balduin schlich näher und beobachtete sie. Die Grille brauchte keine besondere Stimme, um schöne Musik zu machen, sie nutzte ihren Körper dafür. Sie war kein großes Tier, aber ihr Zirpen konnte man weit entfernt noch hören. Balduin seufzte: »Ach, wenn ich doch auch singen oder musizieren könnte!«
Die kleine Grille hielt plötzlich inne und meinte: »Aber jeder kann Musik machen, auch du! Es muss nicht unbedingt eine schöne Melodie sein oder ein besonderer Gesang. Zur Musik gehört auch der Rhythmus!«
Nun war Balduin völlig verwirrt. »Rhythmus, was ist das?«, fragte er nach.
»Ich erkläre es dir, oder noch besser, ich zeige es dir! Beweg doch bitte deine Stacheln.« Die Grille lächelte ihn freundlich an. Balduin blickte sich unsicher um und begann anschließend seine Stacheln aneinander zu reiben. Man konnte es leise rascheln hören. Die Grille klatschte zufrieden in die Hände. »Sehr gut! Und jetzt schneller und mutiger!«

Balduin atmete tief durch und legte los. Er wackelte mit seinen Schultern und schüttelte seine Hüfte. Nun wurde sein Rascheln lauter und es klang gar nicht schlecht. Er nahm den Schwanz dazu und schüttelte ihn kräftig. Das Rasseln war so laut, dass es die anderen Tiere am Fluss anlockte. Balduin merkte davon nichts. Er war so begeistert von dem, was die Grille Rhythmus nannte, dass er sich immer schneller bewegte. Er tanzte und raschelte wie vermutlich noch nie ein Stachelschwein getanzt und geraschelt hatte. Von seiner Traurigkeit war nichts mehr übrig. Er konnte vielleicht nicht singen, aber er hatte Rhythmus im Blut.

»Ich möchte auch mitmachen!«, rief Lilly und begann mit ihrer Hinterpfote kräftig auf den Boden zu trommeln. Die anderen Kaninchenkinder versuchten es auch und die verschieden großen Pfoten klangen unterschiedlich auf der Erde. Als Nächstes stieg die Grille mit ein und zirpte, was das Zeug hielt. Balduin drehte sich im Kreis und sah dabei, wie Carlo einen hohlen Stamm ans Ufer rollte, darauf stieg und mit dem Schwanz dagegenschlug. Das war ein toller Bass. Ein Specht kam angeflogen und wollte ebenfalls mit den anderen musizieren. Im Takt hämmerte er den Schnabel gegen den Stamm und ihre gemeinsame Musik war inzwischen richtig laut und bunt gemischt. Auch die Sänger am kleinen Fluss stimmten mit ein und so quakten die Frösche, zwitscherten die Vögel und schnatterten die Enten. Es war eine wunderbare Sache, gemeinsam zu musizieren!

Als die Tiere später völlig erschöpft aber glücklich auseinandergingen, bedankte sich Balduin bei der Grille, denn er hatte heute etwas ganz Wichtiges gelernt. Jeder konnte Musik machen und gemeinsam waren sie das schönste Orchester der Welt.