1. Jan
»Leute, was sitzt ihr hier noch rum?
Es geht endlich los und ihr wollt das doch nicht verpassen!« Mit diesen Worten stürmte Jan in die Zentrale, in der seine Freunde Florian, Sven und Rosalinde gemütlich am Tisch saßen und ein Gesellschaftsspiel aufbauten. Wenn sie nicht gerade an einem Fall arbeiteten, trafen sie sich hier, um zu plaudern, zu spielen oder einfach ihre Ruhe zu genießen. Die Zentrale war ein kleines Gartenhaus auf dem einzigen, völlig verwilderten Grundstück in der kleinen Schrebergartenanlage. Hier hatten einige Anwohner der Siedlung Steinstraße einen gemieteten Garten, aber auch andere Leute aus ihrer Stadt. Dank der Mithilfe ihres Hausmeisters Harry Mathias, stand auch den vier Freunden eines zur Verfügung. Ihre Zentrale unterschied sich jedoch deutlich von den anderen Gartenhäuschen, denn hier sah es aus, wie in einem gemütlichen Büro:
Es gab einen PC, eine riesige Pinnwand, Aktenschränke, einen Kopierer und vieles mehr. Alles bunt zusammengewürfelt, aber funktional. Wenn die Drei ??? ihre Zentrale auf einem Schrottplatz hatten, konnten die Steinstraßendetektive auch von einem Schrebergarten aus arbeiten. Der größte Vorteil ihres kleinen Reiches bestand darin, dass sie hier völlig ungestört waren. Keine Mutter forderte übertriebene Ordnung oder platzte ständig mit Schnittchen, Getränken oder Ähnlichem herein. Okay, das mit den Schnittchen war für Jan nicht wirklich ein Problem, aber für Rosalinde, immerhin war es ihre Mutter gewesen. Und Rosalinde selbst sorgte auch dafür, dass die Zentrale in einem vernünftigen Zustand blieb, aber eben ein vernünftiger aus der Sicht von Jugendlichen.
Jan blickte, immer noch schnaufend und mit erhitztem Kopf, in die ratlosen Gesichter seiner Freunde.
»Was geht los? Habe ich was verpasst?«, erkundigte sich Florian irritiert und kratzte sich am Kopf. Seine struppigen, blonden Haare standen wie immer wirr in alle Richtungen ab.
»Ich schätze mal, Jan meint die Baustelle neben dem Museum«, antwortete Rosalinde.
»Die machen ein riesiges Tamtam um diesen ersten Spatenstich.
Meiner Meinung nach eine völlige Zeitverschwendung. Eine langweilige Rede unseres Bürgermeisters, eine noch langweiligere Rede vom Bauherrn und dann wird ein Mal ein Spaten in den Boden getreten.
Das war es! Den Rest machen eh die Bagger. Und auf Herrn von Mühlenberg habe ich so überhaupt keine Lust. Ich bin ihm einmal begegnet. Ein total aufgeblasener Kerl, sag ich euch.« Rosalinde wirkte sichtlich genervt.
Sie hatte ihre blonden, langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, aber eine Strähne hing leicht gewellt neben ihrem rundlichen Gesicht herab. Immer wenn sie nachdachte oder sich sehr konzentrierte, wickelte sie diese um ihren Finger. Bis zu einem gewissen Punkt konnte man alleine anhand der Locke erkennen, ob es klug war, Rosalinde anzusprechen oder besser nicht. In der letzten Zeit war sie öfters gereizt. Ihr fehlte die Detektivarbeit, aber in ihrer kleinen Stadt waren mysteriöse Ereignisse oder ungeklärte Fälle nicht unbedingt an der Tagesordnung.
Jan überlegte, wie er ihr die Sache schmackhaft machen könnte.
Sein bester Freund kam ihm zur Hilfe.
»Ach? Davon habe ich ja gar nichts mitbekommen!«, erwiderte Florian verblüfft. Jan grinste in sich hinein. Das war genau die Reaktion, die er gebraucht hatte. Normalerweise war er selbst derjenige, der immer etwas länger brauchte, um auf dem aktuellen Stand zu sein. Aber in den letzten zwei Wochen war es Florian gewesen, der so in die Arbeit an seiner aktuellen Erfindung vertieft war, dass er regelmäßig Sachen vergaß oder überhaupt nicht erst registrierte. Jan nutzte den Moment und meinte: »Rede hin oder her, ich will auf jeden Fall dabei sein, wenn die Bagger aufs Feld rollen! Immerhin soll da ein neuer Freizeitpark entstehen! Und sollte sich irgendetwas Besonderes ereignen, dann wollen wir das doch nicht erst aus zweiter Hand erfahren.«
Jan hatte keine Ahnung, was dieses Besondere sein sollte, aber er würde sich dieses Spektakel definitiv nicht entgehen lassen.
»Also, wer geht mit?«
»Warum nicht?«, meinte Florian, zuckte mit den Schultern und erhob sich.
Rosalinde war von der Sache noch nicht überzeugt. »Wir sind eh viel zu spät, um einen guten Platz zu ergattern. Aus der letzten Reihe werden wir nichts sehen und nichts hören, wobei Zweiteres wohl kein Verlust wäre.«
»Für den Fall können wir die hier ausprobieren!« Plötzlich schien Florian Feuer und Flamme zu sein und kramte in seinem Rucksack. Jan wartete gespannt, was sein Freund daraus wohl hervorzaubern würde.
Der Gegenstand sah aus wie ein kleiner Vogel. Recht unscheinbar, wie ein künstlicher Spatz. Und gerade, dass er so unscheinbar wirkte, machte die Sache genial. »Meine neueste Erfindung! Eine getarnte Drohne.
In unserem Garten hat sie sauber funktioniert. Das Bild war absolut gestochen scharf, selbst durch eine spiegelnde Fensterscheibe hindurch. Ich weiß jetzt ganz genau, wo Rosalindes Mutter ihre Lieblingspralinen versteckt!«
Jan und Sven blickten ehrfürchtig auf den kleinen, mechanischen Vogel. »Eine getarnte Drohne? Ist das denn legal? Und … Moment mal! Du hast unsere Wohnung ausspioniert?«, kreischte Rosalinde empört, und Jan überlegte, welches Schauspiel jetzt spannender werden würde: Zu sehen, wie Rosalinde seinen besten Freund einen Kopf kürzer machte oder die Eröffnung der neuen Baustelle. Der zweite Termin stand jedoch fest und niemand würde ihretwegen warten.
Was die Sache mit der Drohne betraf, so würde Rosalinde auch in zwei Tagen nicht vergessen haben, dass da noch eine offene Rechnung war. Also war es leichter, diese Auseinandersetzung ein wenig zu verschieben.
»Können wir jetzt endlich los?«, fragte Jan daher drängend. Florian nickte hastig, packte den kleinen Vogel wieder in seine Tasche und eilte voraus. Sven zuckte mit den Schultern und stand ebenfalls auf, um sich seinen beiden Freunden anzuschließen. Damit war auch Rosalinde dabei, allerdings verzichtete sie nicht auf einen theatralischen Seufzer und ein Augenrollen, bei dem Jan ernsthaft beeindruckt war, wie weit man Augen so rollen konnte.
Als sie bei ihren Fahrrädern angekommen waren, knurrte sie Florian an: »Über die Pralinen reden wir noch!«
Jan war sich sicher, dass der Tag, so oder so, bestimmt sehr unterhaltsam werden würde.