1.Kapitel Rosalinde
»Es ist weg, mein Portemonnaie, es ist einfach weg!« Die ältere Dame, die direkt vor Rosalinde in der Schlange der Supermarktkasse anstand, wühlte hektisch und bereits den Tränen nahe in der Handtasche. Rosalinde tippte sie vorsichtig an.
»Kann ich Ihnen helfen? Sind Sie sicher, dass Sie es nicht vielleicht zu Hause vergessen haben? Passiert ja jedem mal.« Die Dame sah sie an und schüttelte verzweifelt den Kopf. Der Kassierer hatte die Situation auch mitbekommen und bereits eine weitere Kollegin gerufen, um eine zusätzliche Kasse zu öffnen. Das hier konnte länger dauern.
»Ich habe meinen Einkaufszettel immer im Portemonnaie, weil ich den sonst regelmäßig vergesse. Aber sehen Sie, Fräulein, der ist hier. Den hab ich beim Salat rausgezogen und das Portemonnaie wieder in die Tasche gesteckt.« In ihrer Verzweiflung kippte die Dame den Inhalt der Tasche nun gänzlich auf das Kassenband. Schlüssel, Taschentücher, Stifte, Feuchttücher, ein Nokia-Handy der gefühlt ersten Generation, Bonbons und unendlich viel weiterer Krimskrams lagen breit verteilt. Von der Geldbörse jedoch fehlte jede Spur. Rosalinde zupfte ein Taschentuch aus der Packung und reichte es der aufgelösten Dame, die nun sichtlich zitterte und schniefte. Der Kassierer bot an, die Polizei zu informieren, und die Dame nickte. Rosalinde half dabei, die Tasche wieder einzuräumen, während der Kassierer des Supermarktes die Waren vom Band nahm und zurück in den Wagen legte.
Rosalinde versuchte, ihren etwas fülligeren Körper so zu positionieren, dass sie die Dame vor neugierigen Blicken schützen könnte, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Ihre blonden Locken waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und nur eine Strähne hing lose neben dem rundlichen Gesicht. Sie zog ihre Stupsnase kraus und überlegte angestrengt, ob ihr irgendetwas oder jemand aufgefallen wäre, der sich sonderbar verhalten hatte. Dummerweise hatte ihr Fokus aber mehr auf den Kalorienangaben der Reiswaffeln gelegen, die sie doch massiv frustriert hatten.
Ihr Blick wanderte durch den kleinen Laden. Keiner der anderen Kunden sah verdächtig aus. Vielleicht, sogar sehr wahrscheinlich, war der Dieb bereits aus dem Laden raus und über alle Berge. Rosalinde entdeckte Frau Mutje, eine ältere Mitbewohnerin aus der Siedlung Steinstraße. Diese eilte mit den Worten: »Magda, was ist denn passiert?«, auf die ältere Dame vor Rosalinde zu. Die beiden Frauen schienen sich zu kennen. Rosalinde wurde mehr oder weniger sanft zur Seite geschoben. Klar, mit Jugendlichen kann man das ja machen. Die 15-Jährige trat freiwillig noch ein paar Schritte mehr zurück und ließ den Damen Platz. Was Magda erzählte, kannte sie bereits. Inzwischen war auch ein Streifenwagen angekommen und Rosalinde wurde gebeten, die Sache jetzt den Profis zu überlassen. Sie nickte und zahlte ihre Reiswaffeln an der benachbarten Kasse. Sie verließ den Laden und knabberte bereits auf dem Heimweg an der ersten Waffel.
Die Anzahl der Diebstähle in ihrer kleinen Stadt häuften sich in letzter Zeit, das war schon in der Zeitung zu lesen gewesen und im lokalen Radio meldete man auch immer wieder neue Fälle. Die Opfer waren durchgehend ältere Menschen gewesen, so wie die Dame im Supermarkt. Aber ein festes Muster gab es bisher nicht. Die Detektivin in Rosalinde witterte einen Fall. Sie liebte nichts mehr als Detektivgeschichten und Justus Jonas, der Anführer ihrer Lieblingsreihe die Drei ???, war ihr großes Vorbild. Rosalinde zückte ihr Handy und schrieb eine Nachricht in die WhatsApp Gruppe ihrer besten Freunde.
Treffen in 30 Minuten in der Zentrale!
Wenige Augenblicke später kam die erste Nachricht von Florian zurück.
Habe mein Zimmer nicht aufgeräumt!
Rosalinde schob sich das letzte Stück Waffel in den Mund und schnaubte. Es wurde höchste Zeit, eine richtige Zentrale zu finden. Jede Detektivgruppe hatte so was. Nur sie mussten immer wieder auf Florians Zimmer zurückgreifen. Er und Sven gingen mit Rosalinde zur Schule und wohnten alle in der Steinstraße, wenn auch in verschiedenen Häusern. Jan war schon achtzehn, aber eher von kindlichem Gemüt, wie Rosalindes Mutter es gerne formulierte. Er gehörte ebenfalls zu ihrer Clique. Sie tippte eine weitere Nachricht.
Dann beeil dich!
Ein knappes Okay, sorgte dafür, dass Rosalinde zufrieden grinste. Sie hatte die Jungs doch ganz gut im Griff. Von Sven und Jan kam ein »Daumen hoch« Symbol und eine halbe Stunde später saßen die vier Jugendlichen zusammen und überlegten, was nun zu tun war.