Prolog
Boris saß mitten in der Menge und tat nichts! Wobei das nur teilweise stimmte, denn Boris dachte nach. Über das, was in den vergangenen Tagen geschehen war, über seinen Plan und darüber, was dabei schief gehen könnte. Um ihn herum dröhnte wie jeden Tag der Lärm von Kindern. Normalerweise würde er jetzt fressen, ein wenig über die Fläche laufen, mit den Kleinen aus der Familie spielen oder sich putzen. Kurzgesagt, er würde niedlich sein. Die Kinder standen an den Glaszäunen, während sie das taten, was Kinder immer taten: Sie lachten, kreischten, zeigten auf ihn, bettelten ihre Eltern an, mehr Fotos zu machen oder sie hochzuheben, um besser sehen zu können. Boris hatte sich daran gewöhnt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Zoo seine Tore schloss und alle Besucher nach Hause gingen. Damit würde es zumindest ein wenig leiser werden.Still war es im Tierpark nie, denn wenn die Menschen gegangen waren, hörte Boris die Geräusche der anderen Tiere um ihn herum. Damit meinte er nicht die Elefanten, denn die übertönten sogar das lauteste Kindergeschrei, auch nicht die Affen mit ihren schrillen Gesängen oder die zwitschernden Vögel direkt in der Voliere nebenan. Nein, er meinte das ferne Hufgeklapper der Wildpferde sowie das Wasserplätschern bei den Pinguinen, das Knistern in den Büschen und das Zischeln im Sand. Wenn die Nacht hereinbrach, folgten mit der Dunkelheit die Klänge der nachtaktiven Tiere. Boris war sich sicher, das Rascheln der Stachelschweine hören zu können, die Rufe der Eulen, das Säuseln des Windes und das feine Knacken der Stromleitungen.In den letzten Nächten waren neue Laute dazugekommen, die nicht hierhergehörten, weshalb Boris sie nicht zuordnen konnte. Sie kamen aus den Höhlen unter der Erde, die sich jenseits seines Geländes befanden. Ein Tapsen, ein Scharren, ein Schnalzen und ein Patschen. Geräusche, die sich durch die engen Gänge auf eine Weise verstärkten, dass es einem das Nackenfell zu Berge stehen ließ. Wenn seine Familie längst schlief, lag Boris noch lange Zeit wach, während er angestrengt lauschte. Er hatte nicht den Eindruck, dass die Laute näherkamen, daher wollte sich Boris damit abfinden, dass sie da waren. Es war möglich, dass der Zoo neue Tiere bekommen hatte, von denen er noch nichts gehört hatte, obgleich das sehr unwahrscheinlich war. Wenige Tage später kam ein Gestank hinzu, den er weder ignorieren konnte noch wollte. Er war sicher nicht der Einzige, der ihn roch, doch seine Familie zog es vor, der ganzen Sache keine Aufmerksamkeit zu schenken. Es war außerhalb ihres Terri-toriums, nicht ihr Problem, zudem gab es im Zoo mehr als eine übel stinkende Tierart. Boris vermutete, dass der Ge-ruch von Ratten kam, und alleine der Gedanken an diese Tiere ließ Boris frösteln. Er hasste Ratten, obwohl er nie einer begegnet war, doch er hatte Geschichten über sie ge-hört. Jeder aus seiner Familie kannte Geschichten über Ratten, und wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, musste etwas unternommen werden. Er wollte herauszufinden, wo genau sie sich aufhielten, wie viele sie waren, und nach Möglich-keit dafür sorgen, dass sie die Grenzen seines Territoriums achteten. Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, würde er in ihr Reich eindringen müssen, in die fremden Höhlen, die an das Gelände seiner Familie grenzten.
Für dieses Vorhaben brauchte Boris die passende Ausrüstung, die ihm sein Komplize in dieser Sache heute bringen sollte. Wobei Felix nichts von seinem Glück wusste. Aus diesem Grund saß Boris in der Menge und wartete. Sein Magen knurrte, denn er hatte über sein Grübeln das Fressen vergessen. Langsam wurde es ruhiger um ihn herum und endlich kam Felix. Wie immer trug er einen dunkelgrünen Overall, braune Stiefel, darüber einen Werkzeuggürtel und bei schlechtem Wetter eine braune Jacke, also seine tägliche Arbeitskleidung. Er balancierte eine große, silberne Platte auf einer Hand, während er die kleine Tür zum Gehege aufschloss. Boris‘ Familie konnte kaum erwarten, dass Felix alles, was sich auf der Platte befand, auf dem Gelände verteilte: Äpfel, Möhren, Paprika, Melone und weitere Köstlichkeiten. Boris‘ Magen krampfte sich zu
sammen, dennoch blieb er sitzen und beobachtete, wie Felix an seinem Gürtel nestelte. Der Wärter hielt eine kleine Taschenlampe in den Fingern, blickte zu den verschiedenen Erdlöchern im Boden, ging hier und da in die Hocke, um hineinzuleuchten. Das war der Moment, auf den Boris gewartet hatte. Er rannte, so schnell ihn seine Beinchen trugen, auf Felix zu, sprang und biss ihm beherzt in die Hand. Himmel, schmeckte Fleisch widerlich, vom Blut ganz abgesehen! Der Wärter riss seine verletzte Hand zurück, wodurch er die Taschenlampe fallen ließ. Boris schnappte sich die kleine Halteschlaufe der Lampe mit den Zähnen und verschwand in der Erde. Er war sehr zufrieden, dass der erste Teil seines Plans aufgegangen war. Er verstaute die Taschenlampe an einem sicheren Ort, bevor er durch einen anderen Ausgang zur Oberfläche zurückkehrte. Geschwind mischte er sich unter seine Familie, bevor er sich verstohlen umsah. Felix hatte das Gehege verlassen, vermutlich war er auf dem Weg zum nächsten Verbandskasten.
Jetzt hatte Boris Zeit, sich für das nächtliche Unterfangen zu stärken, wobei er mit Bedauern feststellte, dass die besten Futterstücke in die Pfoten seiner Familie gewandert waren. Übrig geblieben war ein großes Stück Kohlrabi, dass ihm weitaus besser schmeckte als die Hand des Wärters. Boris kaute zufrieden vor sich hin. Sobald die Nacht hereinbrach, konnte seine Mission beginnen. Zu gerne hätte er Verstärkung gehabt, doch die eine Hälfte seiner Familie hätte ihn ausgelacht, während die andere den Kopf geschüttelt hätte. Nur Opa Willy hätte ihn verstanden. Er hatte ihn immer verstanden und ihm die Geschichten erzählt, nach denen sich sein kleines Präriehundherz so gesehnt hatte. In den Augen der anderen Präriehunde war Boris sein Leben lang sonderbar gewesen. Er hatte immer mehr entdeckt, mehr erschnuppert und mehr gehört als die anderen aus seinem Wurf. Dadurch war in ihm der Traum herangereift, eines Tages ein großer Detektiv zu werden. Ein Detektiv wie die, von denen Opa Willy erzählt hatte. Auch wenn Opa Willy nicht mehr bei ihm war, so lebte die Neugier, die dieser in Boris‘ Geist tief eingepflanzt hatte, fort. Er konnte das, was jenseits ihres Gebietes war, nicht ignorieren. Er wollte es nicht ignorieren! Daher war er bereit, sich alleine in die fremden Gänge zu wagen.
Als seine Familie schlief, zog Boris die Taschenlampe aus seinem Versteck und machte sich auf den Weg. Er ließ sie ausgeschaltet, denn die eigenen Röhren kannte er zu gut, als dass er ein Licht gebraucht hätte, um sich zurechtzu
finden. Er folgte den Gängen bis zum Rande ihres Geheges, hier konnte er den Gestank jetzt deutlicher riechen. Boris war sich sicher, dass es der Duft von Ratten war, doch da war noch etwas, was er nicht zuordnen konnte. Es waren die Geräusche, die ihn sichtlich irritierten. Erst solche, die wie das Tapsen nackter Pfoten klangen. Darunter mischte sich ein Summen. Im nächsten Augenblick klatschte es, wodurch das Summen augenblicklich erstarb und durch Kaugeräusche ersetzt wurde. Vorsichtig schlich er weiter und bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben.
Boris atmete tief durch und griff nach der Taschenlampe, bevor er dem Schmatzen weiter folgte. Die Röhre machte einen Knick nach links, dort musste das fremde Tier lauern. Boris hatte die Taschenlampe sowie das Überraschungs-moment auf seiner Seite. Er schoss um die Ecke, richtete die Taschenlampe nach vorne und drückte den kleinen Knopf.
»Halt!«, brüllte er mit dem Mut der Verzweiflung. »Ich habe dich umzingelt!« Sofort fiel ihm der Fehler in seiner Aussage ein, weshalb er sich rasch korrigierte. »Ich meine, wir haben dich umzingelt!«
Das Tier vor ihm erstarrte, blickte erst kurz ins grelle Licht der Taschenlampe und anschließend hektisch nach allen Seiten. Das eine Auge rollte in eine Richtung, das zweite in eine andere. Der Körper wechselte die Farbe von Grün zu Braun, als versuchte das Tier, sich dem Erdreich um es herum anzupassen.
»Caspar?« Boris, der immer noch zitterte, senkte langsam den Strahl der Lampe, wobei er sichtlich irritiert zu einem Chamäleon und einem toten Rattenkörper dahinter starrte. War es möglich, dass Caspar eine Ratte getötet hatte? Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Chamäleon an, das den richtigen Farbton der Wände noch nicht getroffen hatte. Jetzt richteten sich beide Augen auf ihn. Konnte das wahr sein? Boris war sich nicht sicher, was ihn mehr verwirrte: Die Tatsache, dass vor ihm das einzige Tier stand, dem es je gelungen war, aus dem Tierpark auszubrechen, was Caspar zu einer Berühmtheit gemacht hatte, oder die Möglichkeit, dass Caspar eine ausgewachsene Ratte hatte besiegen können.
»Boris?«, kam ebenso verblüfft zurück. Der Präriehund fragte sich, woher Caspar seinen Namen kannte. Doch darüber würde er sich später Gedanken machen, denn in diesem Augenblick gab es wichtigere Dinge zu klären.
»Was tust du hier unten? In diesen Gängen gibt es Ratten!«, erwiderte Boris.
Mit einem kurzen Blick auf den reglosen Rattenkörper meinte Caspar: »Ach, danke für den Hinweis! Die habe ich unter den ganzen Fliegen glatt übersehen.«
»Hast du sie getötet?«, wollte Boris wissen, wobei er mit weit aufgerissenen Augen zur Ratte blickte.
Caspars Stimme klang rauchig, gleichzeitig düster, als er erklärte: »Unsinn, die lag hier rum und hat Fliegen ange-lockt. Einfacher komm ich nicht an mein Futter, seit mich niemand mehr mit solchen Leckerbissen versorgt.«
Boris dachte einen Augenblick nach. Alles, was er über das Chamäleon wusste, war, dass es vor einigen Wochen aus seinem Terrarium ausgebrochen war. Niemand wusste, wie es ihm gelungen war, weshalb die Geschichte rasend schnell die Runde gemacht hatte und am folgenden Tag jedes Tier im Zoo Caspars Namen kannte. Niemand wusste, wohin Caspar gegangen war. Nun stand fest, dass Caspar das Gelände des Zoos nie verlassen hatte, oder zumindest nicht weit entfernt davon lebte. Sofort drängte sich Boris eine weitere Frage auf: »Wie ist es dir gelungen, aus dem Terrarium zu entkommen?«
Caspar rollte mit den Augen, als läge die Lösung klar auf der Pfote: »Menschliche Schlösser sind einfach zu knacken.«
Vom Chamäleon nun abgesehen, kannte Boris kein einziges Tier, das die Tür zu seinem Gehege öffnen konnte.
»Woher weißt du eigentlich, wie ich heiße?«, fragte Boris.
»Deine Familie spricht dich mit diesem Namen an. Oder sie sprechen über dich: Über den Sonderling, den Seltsamen, den furchtbar Anstrengenden, der allem auf den Grund gehen muss! Es war nicht schwer zu erkennen, wen sie meinen, obwohl ihr mehr oder weniger alle gleich ausseht«, erklärte Caspar.
Boris versuchte, die Informationen zu verarbeiten, dass seine Familie ihn offen als Sonderling bezeichnete. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wusste genauso wenig, ob das, was Caspar sagte, stimmte. Andererseits, warum sollte das Chamäleon ihn anlügen? Lauter Fragen, auf die ihm keine Antworten einfielen, weshalb er eine Gegenfrage stellte. »Sind wir zwei uns bereits begegnet?«, wollte er wissen.
»So ist es.« Caspar nickte. »Wir begegnen uns täglich, allerdings schaust du nicht richtig hin, weshalb du mich nicht siehst.«
Das saß! Zugleich verwirrte ihn der letzte Satz! Boris war stolz darauf, mit geschärften Sinnen sein Gelände zu bewachen, selbst dann, wenn er putzig wirkend durch den Sand rollte. Zugegeben, beim Fressen ließ seine Achtsam
keit ein wenig nach. Dennoch war er sich sicher, dass ihm das Chamäleon aufgefallen wäre, wenn sie sich täglich über den Weg gelaufen wären. Konnte Caspar sich so perfekt tarnen, dass er für Boris‘ wachsame Augen unsichtbar war? Skeptisch betrachtete er das Chamäleon, das sich soeben eine weitere dicke Fliege gefangen hatte.
»Das würde bedeuten, dass du immer noch im Zoo lebst«, meinte Boris, woraufhin Caspar zufrieden nickte.
»Korrekt.«
»Warum? Und wieso ausgerechnet bei uns?« Das Ganze ergab keinen Sinn!
»Die Welt da draußen ist kalt«, antwortete das Chamäleon knapp.
Boris war genauso verwirrt wie vor dieser Erklärung, daher hakte er nach: »Du meinst, sie ist einsam?«
»Nein«, korrigierte Caspar. »Sie ist kalt! Es gibt nicht eine vernünftige Wärmelampe über den Steinen da draußen! Bei euch dagegen ist es warm, weshalb ich mich auf eurem Gelände verborgen halte. Zudem sind eure Augen dermaßen schlecht, dass ihr mich in meiner Tarnung nicht sehen könnt.«
Boris war empört, denn Präriehunde konnten ausge
zeichnet sehen! Sie erkannten Feinde in weiter Entfernung, um die Mitglieder der Sippe rechtzeitig warnen zu können. Im Zoo allerdings gab es keine sich anschleichenden Fress
feinde, wodurch sich die nötige Achtsamkeit in den letzten Generationen vermutlich etwas abgebaut hatte. Was aber nicht bedeutete, dass sie schlechtere Augen hatten als ihre Ur Urgroßeltern. Sie legten nur die Prioritäten anders und spähten eher nach den besten Futterstücken als nach poten
ziellen Gefahren. Boris nahm sich vor, in Zukunft wach
samer zu sein und seine Augen nach Caspar offenzuhalten. Seine Nase erinnerte ihn in diesem Moment erneut an das Problem mit der Ratte zu seinen Füßen. »Caspar, dir ist klar, dass die Ratte hier nicht bleiben kann? Ihr Gestank ver
pestet alle Tunnel! Sie wird weitere Tiere anlocken, die uns gefährlich werden können. Ich muss sie an die Oberfläche schaffen, wo sie vom Wärter entsorgt wird.«
Das Chamäleon schnappte sich eine letzte Fliege und kaute genüsslich, bevor es seufzend nickte.
Boris schüttelte es bei dem Gedanken, den toten Körper durch die Gänge ziehen zu müssen. Er überlegte, wie er die Ratte am besten packen konnte, und drehte sich ein letztes Mal zu Caspar um. Das Chamäleon war nicht mehr zu sehen. Egal, wie fest Boris seine Augen zusammenkniff, er erkannte nichts. Caspar musste in der Nähe sein, sonst hätte Boris die Schritte gehört. Oder nicht?
»Ich könnte ein wenig Hilfe gebrauchen, als Dankeschön dafür, dass ich den anderen Präriehunden nicht verrate, wo du dich aufhältst«, rief Boris. Keine Antwort. »Ach, was bringt das?«, murmelte Boris mehr zu sich selbst. »Soll er im Gehege bleiben. Wer weiß? Vielleicht kann ich irgend-wann einen Schlösserknacker gebrauchen.«
In der Finsternis grinste Caspar und als Boris begann, die Ratte zum nächsten Höhlenausgang zu ziehen, verschwand das Chamäleon Richtung Präriehundgehege. Mühsam schob Boris den stinkenden Körper durch den Tunnel zur nächsten Öffnung. Die Taschenlampe ließ er eingeschaltet daneben liegen, so würden die Pfleger am nächsten Morgen gleich beides finden. Anschließend machte er sich auf den Weg zurück zum Bau der Präriehunde und legte sich schlafen. Ab morgen würde er einen wachsamen Blick auf die Wärmelampen haben!
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