Waltrudis und das Lebkuchenhaus
Es war einmal eine kleine Fee namens Waltrudis.
Wenn ihr euch jetzt über den Namen wundert, weil ihr ihn noch nie gehört habt, dann liegt es daran, dass Waltrudis schon eine sehr alte Fee war.
Sie lebte im hohen Norden und arbeitete in der Weihnachtsbäckerei. Wie alle Weihnachtsfeen trug sie ein Kleid in dunklem Tannengrün und spitze Schuhe in derselben Farbe. Dazu eine rot-weiß geringelte Strumpfhose und eine rote Schürze. Trotzdem unterschied sich Waltrudis sehr von den anderen Feen in der Weihnachtsbäckerei und das lag nicht nur an ihren grauen Haaren und den vielen Falten im Gesicht. Waltrudis war noch eine Fee vom alten Schlag, wie eure Oma oder euer Opa vielleicht sagen würden.
Im Laufe der vielen Hundert Jahre, in denen man schon Weihnachten feierte, hatte sich auf der Welt einiges verändert. Aber nicht nur dort. Auch die Weihnachtsbäckerei sah ganz anders aus als zu der Zeit, da Waltrudis dort als junge Fee angefangen hatte. Sie erinnerte sich noch gut daran, auch wenn es schon lange, lange her war. Das Erste, was sie damals gebacken hatte, war ein Lebkuchenhaus gewesen. Sie hatte sich an das Rezept gehalten, wie alle anderen Feen auch, aber sie konnte es nicht lassen, besonders viel Liebe und eine Prise Feenstaub mit in den Teig zu geben. Immer wieder probierte sie den Teig, bis sie endlich damit zufrieden war. Es ist nicht gelogen zu sagen, dass sie den besten Lebkuchen von allen backte!
Im Laufe der Jahre war sie durch das viele Naschen ganz schön pummelig geworden. Trotzdem hörte sie nicht damit auf. Es war ja nicht so, dass sie nicht mehr fliegen konnte, weil sie zu dick war. Sie flog nur etwas langsamer und eher dicht über dem Boden. Dabei sah sie ein bisschen aus, wie eine Weihnachtshummel.
Inzwischen waren alle ihre Freundinnen in den Ruhestand gegangen und hatten die Weihnachtsbäckerei den jungen Feen überlassen. Auch die Bäckerei selbst hatte man modernisiert. Es gab jetzt neue und größere Öfen, Teigrührmaschinen und sogar Maschinen, die jedes Mal genau die richtige Menge an Zutaten in die Schüsseln füllte. Probieren musste niemand mehr, denn jeder Teig war immer genau so, wie er sein sollte. Die jungen Feen backten mit der gleichen Freude und Hingabe wie die alten, aber doch ein bisschen anders. In der hintersten Ecke stand noch ein einzelner alter Ofen, der mit Holz befeuert wurde. Er war der letzte seiner Art und dort arbeitete Waltrudis. Jedes Jahr überlegte sie, ob es nicht an der Zeit wäre aufzuhören. Aber dann hatte sie das Gefühl, dass es noch eine Aufgabe gab, die sie zu erfüllen hatte. Sie wusste nur nicht, was es war.
Eines Tages kam der Weihnachtsmann in die Bäckerei und hielt einen Brief in der Hand. »Ihr Lieben, würdet ihr mir bitte einen Moment zuhören? Ich habe einen ganz besonderen Wunschzettel erhalten, den ich euch gerne vorlesen möchte.«
Alle Feen stellten sofort ihre Arbeit ein und liefen oder flogen zum Weihnachtsmann. Normalerweise kümmerten sich die Spielzeugelfen um die Geschenke. Was konnte sich denn ein Kind aus der Weihnachtsbäckerei wünschen? Die Plätzchen und Kuchen gingen ohnehin an alle Familien auf der Welt! Waltrudis brauchte ein wenig länger, bis sie beim Weihnachtsmann angekommen war und stand in der letzten Reihe. Zum Glück hatte der Weihnachtsmann eine tiefe Stimme, die laut genug war, dass sie ihn auch hier noch gut verstehen konnte. Er räusperte sich und begann zu lesen:
»Lieber Weihnachtsmann,
ich heiße Lisa und bin 11 Jahre alt. Ich wohne in Eitorf, aber das weißt du ja vermutlich, da ich dir jedes Jahr einen Brief schreibe. Mein Wunschzettel fällt dieses Jahr ein bisschen kürzer aus als sonst, aber dafür hoffe ich, dass du mir den einen Wunsch auch wirklich erfüllen wirst.
Dieses Jahr ist meine Oma gestorben. Sie war schon sehr alt und ich weiß, dass du sie nicht wieder lebendig machen kannst. Wir haben jedes Jahr in der Adventszeit gemeinsam ein Lebkuchenhaus gebaut. Sie hat die Lebkuchen gebacken und dann haben wir zusammen das Haus dekoriert. Ich habe ihr Rezept gefunden und versucht, die Lebkuchen selbst zu backen, aber sie schmecken nicht richtig. Auch als meine Mutter mir geholfen hat, war es so, als fehlte etwas. Eine kleine, aber wichtige Zutat, die einfach nicht auf dem Zettel steht. Deshalb wünsche ich mir dieses Jahr nur eine Sache von dir. Ich hätte gerne ein Lebkuchenhaus, das so ist wie die von meiner Oma. Ich vermisse sie so sehr. Das war es auch schon und ich hoffe wirklich, wirklich, wirklich, dass du es schaffst. Aber wenn nicht du, wer dann?
Ganz liebe Grüße,
Deine Lisa
PS: Ich leg dir noch ein Foto vom letzten Jahr bei. Dann hast du eine Vorstellung davon, wie das Haus aussehen könnte.«
In der Weihnachtsbäckerei war es plötzlich ganz still. Die eine oder andere Fee schluckte schwer und Waltrudis wischte sich sogar ein kleines Tränchen aus den Augen. Das Foto ließ der Weihnachtsmann herumreichen und als Waltrudis es sah, staunte sie nicht schlecht. Darauf waren Lisa und ihre Oma zu sehen. Zwischen ihnen auf dem Tisch stand ihr Lebkuchenhaus. Ach was, das war ein Lebkuchenpalast! Noch nie hatte die alte Fee ein schöneres gesehen. Erst, als sie sacht in die Seite geknufft wurde, reichte Waltrudis das Foto weiter.
»Wer hat eine Idee, wie wir den Wunsch erfüllen können?«, fragte der Weihnachtsmann. Mehrere Hände schnellten in die Höhe. Der Weihnachtsmann deutete zuerst auf Felix, der sofort antwortete: »Wir haben doch unsere Lebkuchenproduktion! Wir können ein großes Haus bauen, mit zwei Etagen. Zudem würde ich einen bunten Zuckerguss nehmen und nicht den weißen. Vielleicht färben wir ihn blau!«
»Nein rosa!«, widersprach Emelie. »Sie ist doch ein Mädchen!« Danach ging eine laute Diskussion los, bei der alle wild durcheinander sprachen.
»RUHE!«, rief der Weihnachtsmann und alle Feen verstummten. In der letzten Reihe hüpfte jedoch eine kleine dicke Fee in die Höhe und hoffte, endlich gesehen zu werden. »Waltrudis komm nach vorne und sage mir, was du dazu denkst.«
Die Feen bildeten eine Gasse und Waltrudis ging hindurch, bis sie vor dem Weihnachtsmann stehen blieb. »Wir können ihren Wunsch hier nicht erfüllen. Tut mir leid.«
Bevor sie weitersprechen konnte, schimpften die Feen um sie herum empört: »Natürlich können wir das! Wir sind Bäckerfeen! Wir backen den perfekten Lebkuchen!«, tönten die Rufe von allen Seiten.
»Wie meinst du das?«, hakte der Weihnachtsmann nach.
»Ich meine es so, wie ich es sage. Wir können ihren Wunsch HIER nicht erfüllen. Wir haben nicht das richtige Rezept. Mag sein, dass unser Lebkuchen perfekt ist, aber für Lisa würde er trotzdem falsch schmecken. Da helfen auch keine zwei Etagen und kein bunter Zuckerguss.« Jetzt widersprach ihr niemand mehr und alle Feen schauten traurig in die Runde.
»Hm«, brummte der Weihnachtsmann. »Dann können wir ihren Wunsch nicht erfüllen.«
»Das habe ich nicht gesagt«, korrigierte Waltrudis. Alle Augen in der Weihnachtsbäckerei waren nun auf sie gerichtet. »Wenn wir das richtige Rezept haben, können wir es auch backen. Aber da das Rezept bei Lisa ist, müssen wir auch dort backen. Vielleicht finden wir auch heraus, welche Zutat fehlt.«
»Das ist eine wunderbare Idee!«, freute sich der Weihnachtsmann. »Wer möchte diese Aufgabe übernehmen?« Die Feen waren mit einem Mal so still, dass man das Knistern der Äste in Waltrudis kleinem Ofen hören konnte. Keine der Feen hatte jemals die Weihnachtsbäckerei verlassen! Nach langem Schweigen meldete sich Waltrudis.
»Bist du dir ganz sicher?«, fragte der Weihnachtsmann freundlich. »Du bist nicht mehr die Jüngste und der Weg ist weit!«
»Das bist du auch nicht und dennoch machst du dich jedes Jahr auf den Weg um die Welt. Da werde ich wohl auch den Weg zu einem kleinen Mädchen schaffen.« Vielleicht war das hier ihre Aufgabe, auf die sie so lange gewartet hatte. Der Weihnachtsmann lachte mit dunklem »Ho, ho, ho« und nickte. Damit war die Sache beschlossen. Die anderen Feen gingen wieder an ihre Arbeit und Waltrudis packte ihre Sachen, die sie unbedingt mitnehmen wollte. Ihre Lieblingsschürze und den alten Rührlöffel, mit dem sie ihr erstes Lebkuchenhaus gebacken hatte. Er würde ihr auch beim letzten Haus noch gute Dienste erweisen. Damit war sie bereit für die Reise.
Der Weg war tatsächlich sehr weit und als Waltrudis endlich in Eitorf ankam und nach Lisas Haus suchte, war es schon früh am nächsten Morgen. Vielleicht wäre es in den letzten Jahren doch besser gewesen, nicht so viel zu naschen, denn sie schnaufte ordentlich. Dennoch hatten ihre kleinen Flügel gute Arbeit geleistet und sie sicher ans Ziel getragen. Es war niemand zu Hause, denn Lisas Eltern waren bereits zur Arbeit gegangen und sie selbst zur Schule.
Als Waltrudis in Lisas Zimmer stand, staunte sie sehr. Es sah dort aus, wie in einer Backstube. Der Schreibtisch war mit einer Wachstischdecke abgedeckt und stand voll mit Gläsern und Dosen, in denen sich alle erdenklichen Süßigkeiten befanden, mit denen man ein Lebkuchenhaus verzieren konnte. Selbst eine lange Pinzette, die so groß war wie Waltrudis selbst, lag bereit, um genauer arbeiten zu können. Was jedoch fehlte, waren die Lebkuchen. In der Mitte des Schreibtisches lag ein vergilbter alter Zettel. Es klebten mehr getrocknete Teigreste am Papier als an Waltrudis Schürze nach einem langen Backtag! Sie las sich das Rezept durch und konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, was offensichtlich fehlte. Sie rollte den Zettel zusammen und flog mit ihm in die Küche. Das Haus war sehr alt und hatte offenbar Lisas Großmutter gehört. In der Ecke stand sogar noch ein alter Ofen, der mit Holz befeuert wurde. Genau wie Waltrudis Ofen in der Weihnachtsbäckerei, nur viel größer. Die kleine Fee flatterte in der Luft und strich liebevoll über die Kante des Ofens und machte sich anschließend an die Arbeit.
Die größte Herausforderung bestand darin, mit den riesigen Schüsseln und Geräten zu arbeiten. Waltrudis verbrauchte dadurch eine Menge ihres Feenstaubs, aber das hielt sie nicht auf. Als der Teig fertig war, zupfte Waltrudis ein Stückchen ab und steckte es sich in den Mund. Er schmeckte köstlich und erinnerte sie an ihr eigenes Lebkuchenrezept, nach dem sie immer backte. Aber Lisa hatte es richtig erkannt, etwas fehlte. Aber was?
Waltrudis flog durch die Küche und sah sich um. Irgendwo in diesem Raum musste es die Antwort geben, das spürte sie! An den Wänden hingen viele Fotos. Auf mehreren erkannte sie Lisa und ihre Oma mit einem Lebkuchenhaus. Aber es gab auch ein Bild, das noch viel älter war, in Schwarz und Weiß. Es zeigte Lisas Oma als kleines Mädchen und deren Oma. Auch die beiden hatten schon an Weihnachten zusammen gebacken. Bei all den Bildern wurde es Waltrudis ganz warm ums Herz. Jetzt wusste sie, was dem Rezept fehlte! Sie flog zurück zum Teig und streute eine kleine Prise Feenstaub darüber. Dann knetete sie ihn erneut und ließ all die Liebe mit einfließen, die man auf den Fotos nicht sehen, aber deutlich spüren konnte. Außerdem fügte sie noch eine Prise Zimt dazu. Als sie den Teig ein zweites Mal probierte, war er perfekt. Sie feuerte den alten Ofen an, denn von dem modernen daneben hielt sie nicht viel. Während sie die Lebkuchen im Ofen hatte, brachte Waltrudis die Küche wieder in Ordnung.
Es duftete herrlich durchs ganze Haus, als Waltrudis mit den Lebkuchen in Lisas Zimmer flog. Das Backen war der eine Teil und das Bauen der andere. Jetzt war Handarbeit angesagt und die alte Fee krempelte sich die Ärmel hoch. Mit ganz viel Zuckerguss klebte sie die Wände zusammen und begann das Häuschen von außen zu dekorieren. Das Dach konnte sie erst aufsetzen, wenn die Wände stabil zusammenhielten. Sie hatte an den Seiten Fenster gelassen und auch die Tür leicht geöffnet eingesetzt, sodass man auch ins Innere schauen konnte. Wenn dies wirklich ihr letztes Lebkuchenhaus werden würde, dann sollte es ein besonderes sein! Sie deckte das Dach mit lauter kleinen Butterkeksen ein, die wie Dachschindeln aussahen. Dann verzierte sie diese mit Zuckerguss und bunten Perlen. Auch der Schornstein durfte nicht fehlen. Als Waltrudis damit fertig war, lagen noch so viele Süßigkeiten bereit, dass es eine Schande wäre, wenn sie diese nicht benutzte! Lisa hatte bunte Bonbons geschmolzen und die Masse auf ein großes Blatt Backpapier gegossen. Daraus ließen sich wunderschöne Fließen brechen, die blau schimmerten. Damit würde sie die Wände gestalten. Und aus den Toffeebonbons konnte sie einen Boden zaubern, der wie Holzdielen aussehen sollte. Es wäre das erste Lebkuchenhaus, dass sie nicht nur von außen, sondern auch von innen verzieren würde.
Waltrudis ließ alles, was sie verwenden wollte, von oben ins Innere des Hauses schweben und flatterte hinterher. Anschließend setzte sie das Dach auf und klebte es mit Zuckerguss von innen fest. Während es trocknete, hatte sie genug Zeit für ihre Arbeit. Die kleine Fee konnte überhaupt nicht mehr aufhören. Immer, wenn sie dachte, sie sei fertig, fiel ihr etwas ein, was sie noch unbedingt anbringen wollte. Einen Kronleuchter aus Zuckerperlen, einen Sessel aus Gummidrops, Vorhänge aus feinster Zuckerwatte und noch vieles mehr. Als sie endlich alles im Haus verarbeitet hatte, wischte sich Waltrudis den Zuckerguss von der Stirn. Das letzte Körnchen Feenstaub war verbraucht worden, um den kleinen Ofen zu bauen und in die Ecke des Zimmers zu stellen. Sie war fertig und wirklich sehr stolz auf ihr Werk. Zufrieden sah sie sich ein letztes Mal im Innern um. Dann lief sie zur Tür und wollte sie aufschieben, aber das ging nicht! Sie war ja fest an ihre Position geklebt!
Waltrudis atmete tief ein, zog den Bauch an und versuchte, sich durch den Türspalt zu pressen. Sie schob sich Millimeter für Millimeter vorwärts, bis der getrocknete Zuckerguss gefährlich zu knacken begann. Schnell trat sie einen Schritt zurück. Vielleicht würde es gehen, wenn sie die Schürze auszog. Ein zweites Mal versuchte sie es und hielt dabei sogar die Luft an. Aber als die ersten kleinen Stücke aus dem Zuckerguss brachen, gab Waltrudis auf. Es klappte nicht, sie war einfach zu dick für diese Tür. Auch die Fenster waren zu klein und vermutlich hätte sie die Vorhänge beim Versuch ruiniert. Der Schornstein war nur von außen aufgesetzt, und bot ebenfalls keinen Weg nach draußen. Vielleicht konnte sie sich schlanker zaubern! Dann würde sie durch die Tür passen. Waltrudis schüttelte ihr kleines Säckchen, aber es war nicht ein einziges Körnchen Feenstaub mehr übrig. Wie sie es auch drehte und wendete, sie saß im schönsten Lebkuchenhaus, das sie je gebacken hatte, fest. Seufzend ließ sie sich in den Dropssessel fallen und rieb sich die Schläfen. Es musste doch eine Lösung für ihr Problem geben. Eine, bei der sie nicht die Tür kaputtdrücken würde. Waltrudis war erschöpft und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen.
»Ich glaub es nicht! Er hat meinen Brief wirklich gelesen!« Ruckartig fuhr die alte Fee in die Höhe. Die Worte hatten sie aus dem Schlaf gerissen, dabei hatte sie überhaupt nicht schlafen wollen! Wer hatte da gerade gesprochen? War es Lisa? Waltrudis suchte nach einer Möglichkeit um sich zu verstecken, aber hier gab es nichts. Als das Lebkuchenhaus hochgehoben wurde, verlor sie das Gleichgewicht und purzelte polternd gegen die nächste Wand. »Au!«, stöhnte sie und rieb sich den Hintern.
»Oh, mein Gott, wie süß ist das denn? Da ist ja ein Sessel und es gibt Vorhänge an den Fenstern. Ein kleiner Ofen in der Ecke und sogar eine Fee am Boden! Moment Mal! Eine kleine Fee?« Lisa drehte das Lebkuchenhaus, um durch alle Fenster und durch den Türspalt schauen zu können. Nie zuvor hatte sie eine so süße Einrichtung in einem kleinen Haus gesehen. Doch als sich die dicke Fee bewegte und wieder auf ihre Füße mühte, hätte Lisa das Haus fast vor Schreck fallenlassen. Vorsichtig stellte sie es zurück auf den Schreibtisch und setzte sich auf einen Hocker davor. Jetzt war sie auf der richtigen Höhe, um ins Lebkuchenhaus schauen zu können. Als sich die Fee zu ihr umdrehte, verschlug es ihr fast den Atem. »Oma?«, fragte sie zaghaft. Lisa wusste, dass das nicht möglich war, aber die kleine Fee sah tatsächlich aus wie ihre Oma. Nur viel kleiner und mit Flügeln. Die grünen Augen leuchteten hinter einer winzigen Brille. Mehl hing in den tiefen Falten ihres Gesichts. Die grauen Haare waren in einem Knoten zusammengebunden. Ein paar feine Strähnen hatten sich daraus gelöst und standen nun in alle Richtungen ab. Sie trug über ihrem grünen Kleid eine dunkelrote Schürze mit Teigflecken darauf. Selbst die Figur wirkte so weich und rund wie bei ihrer Oma.
»Ich fürchte nicht. Mein Name ist Waltrudis und ich komme aus der Weihnachtsbäckerei.«, antwortete die Fee.
»Dann gibt es den Weihnachtsmann tatsächlich und er hat meinen Wunschzettel bekommen.« Lisa strahlte.
»Ja, das hat er und natürlich gibt es ihn! Warum hättest du ihm denn sonst schreiben sollen?«, erwiderte Waltrudis empört.
»Ich weiß auch nicht. Ich war nur nicht ganz sicher. Aber sag mal, was machst du denn in meinem Lebkuchenhaus?«, erkundigte sich Lisa.
»Ich habe es gebacken und dekoriert!«, erklärte die Fee stolz. »Aber dann kam ich nicht mehr rechtzeitig weg. Ich habe nicht durch die Tür gepasst.«
»Oh«, kam es von Lisa und Waltrudis konnte ihr nur zustimmen. »Kann ich die Tür nicht einfach abbrechen, damit du raus kommst?«
»Natürlich geht das. Es ist ja dein Lebkuchenhaus. Nur ist es dann ein bisschen kaputt.«, meinte Waltrudis traurig.
»Ach, das ist nicht schlimm. Es ist doch schließlich zum Essen da.« Vorsichtig zog Lisa die Tür auf und löste sie vom Haus ab. Jetzt war genug Platz für Waltrudis, um aus dem Haus zu kommen. Sie sah zu, wie Lisa in die Tür biss und genüsslich kaute. »Wow, genau so muss der Lebkuchen schmecken! Er ist einfach großartig.« Mit vollem Mund war sie zwar schlecht zu verstehen, aber Waltrudis freute sich trotzdem über das Kompliment. Als Lisa geschluckt hatte, sagte sie: »Ich danke dir. Das ist das schönste Geschenk, das du mir machen konntest. Ich werde jeden Tag nur ein kleines Stückchen essen, damit es bis Weihnachten reicht. Aber den Ofen nicht. Den werde ich behalten.«
»Das freut mich sehr. Aber jetzt wird es für mich Zeit, wieder nach Hause zu gehen.« Auf dem Tisch sah Waltrudis ein kleinwenig Feenstaub liegen. Nicht viel, aber es würde für den Heimweg reichen. Sie sammelte ihn mit den Fingern auf und bestreute ihre Flügel. Bevor sie jedoch starten konnte, hielt Lisa sie einen Moment zurück.
»Eine Frage habe ich aber noch.« Lisa sah die kleine Fee bittend an. »Kannst du mir verraten, was du an dem Rezept geändert hast? Warum schmeckt es jetzt so, wie es soll und bei mir nicht?« Waltrudis überlegte einen Moment.
»Es fehlte eine Prise Zimt. Außerdem braucht der Teig viel Zeit und Liebe. Vielleicht macht auch der Ofen den entscheidenden Unterschied. Und eine Prise Feenstaub hilft immer.«, antwortete die kleine Fee.
Jetzt ließ Lisa traurig die Schultern hängen. »Zimt, Zeit und Liebe bekomme ich hin. Mit dem Ofen kann mir meine Mutter helfen, aber wo bekomme ich den Feenstaub her?«
»Na denk doch mal nach!«, sagte Waltrudis lachend und sah sie schelmisch an. Lisas Augen wurden groß.
»Meinst du, den kann ich mir vom Weihnachtsmann wünschen?«
»Na ganz bestimmt! Und ich werde ihn dir persönlich vorbeibringen. Vielleicht können wir dann ja gemeinsam backen.«
Lisa hob die kleine Fee auf ihre Hand und trug sie zum Fenster. Bevor sie es öffnete, sah sie sich Waltrudis ganz genau an. Es war wirklich, als wäre ihre Oma noch einmal zu ihr gekommen. Und vielleicht würden sie sich nächstes Jahr wiedersehen. Ganz vorsichtig gab sie der Fee einen Kuss. »Das wäre das schönste Weihnachtsgeschenk.«
Waltrudis wartete darauf, dass Lisa ihr das Fenster öffnete. Sie winkte ein letztes Mal und machte sich auf den weiten Weg zur Weihnachtsbäckerei.
Eigentlich hatte sie gedacht, dass es jetzt Zeit wäre aufzuhören. Aber sie wusste ganz genau, dass sie noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte.